Gorillas, Flink und Co.: Kommt jetzt die echte Digitalisierung des Handels?

20. Oktober 2021

Brauchen wir in einer nachhaltigen Welt wirklich eine Lieferung von Lebensmitteln innerhalb von 10 Minuten? Oder erleben wir mit Diensten wie Gorillas, Getir, Flink, Grovy oder Foodpanda (eine Delivery-Hero-Marke) eine Übertreibung der Technologie-Optimierung des Handels, für die es keinen echten Bedarf gibt?

Noch vor 60 Jahren hat ein Einzelhändler, egal ob im Bereich Lebensmittel, Herrenausstatter oder Unterhaltungs-Elektronik, den Bedarf seiner Kunden abgeschätzt, die Waren auf eigene Kosten und Risiko eingekauft und diese dann an seine Kunden verkauft. Die Bedarfsermittlung, das Risiko, die richtige Ware bevorratet zu haben, und das gesamte Lagerrisiko hat der Einzelhändler getragen. Der Händler hat die Waren direkt beim Hersteller oder über einen Zwischenhändler (Distributor) bezogen.

Effizienzsteigerung auf der grünen Wiese

Supermärkte haben die Effizienz massiv gesteigert: Das war möglich, weil der Kunde – angefangen im Lebensmittelbereich – bereit war, größere Strecken als zuvor zu einem Lager (Supermarkt) zu fahren, seine Waren in diesem Lagerbereich selbst aus den Regalen zu nehmen und diese zu einem rudimentär optimierten zentralen Bezahlvorgang zu bewegen, um anschließend alles mit einem Auto nach Hause zu fahren. Dieses Supermarkt-Konzept mit der massiven Verlagerung der Optimierung und großen Auto-orientierten Einzugsbereichen gibt es für Möbel (IKEA), Sportartikel (Decathlon), Bekleidung (diverse Marken), Baumärkte und vieles mehr.

Seit dem Aufschwung von Amazon reden wir nun über den Untergang des Einzelhandels. Dabei haben diese Supermarkt-Konzepte schon seit mehr als 30 Jahren den Handel aus den Städten in die nur noch mit dem Auto erreichbaren Außenbezirke gezogen. Wir waren berauscht von den immer größeren Läden, immer mehr Glamour, immer mehr Auswahl. Den Großteil des echten alltäglichen Bedarfes haben wir über zugängliche Lager in den Vorstädten gedeckt. Wenn wir Erlebnis-Shopping als Event und Unterhaltung brauchten, sind wir in die Innenstädte gegangen, haben dabei noch was gegessen und uns mit Freunden getroffen.

Omnichannel – der direkte Weg zum Kunden ist der Todesstoß für die Innenstädte

Durch den Online-Handel (eCommerce) ist über die letzten 10 bis 15 Jahre zuerst der Effizienz-Einkauf angegriffen worden. Wieso noch ins Auto setzen, wenn man bequem vom Sofa aus bestellen kann? Mit Omnichannel-Konzepten, also der Durchdringung der realen Einkaufserfahrung in Markenshops im Kaufhaus mit der Markenpräsenz auf allen Kanälen wurde dann auch der Erlebnis-Einkauf in den Innenstädten attackiert. Dies führt zu einer immer stärkeren Vormacht der in jeder Stadt gleichen internationalen Marken, die ihre Stores und Showrooms nahtlos mit der virtuellen Welt verbinden. Einen Händler im oben aufgeführten Sinne benötigen solche internationalen Marken nicht mehr.

Diese internationalen Marken haben einen eigenen Zugang zu Kunden, entweder direkt oder über Influencer und Social Media Kanäle, und brauchen mit diesem komplett integrierten Konzept gar keine eigenständigen Händler mehr. Sie digitalisieren und integrieren ihre Kanäle und Kundenbeziehungen. Das ist kein Wiederverkauf oder Handel, egal wie wir es in Statistiken oder Medien noch nennen. Denn hier verkaufen Marken ihre Produkte in direkter Form an Endkunden. Einer Firma Apple ist es egal, ob das iPhone im Apple Store abgeholt wird oder online bestellt und nach Hause geliefert wird. Auf dem gleichen Weg sind Automarken, Mode-Labels und auch Lifestyle-Marken. Lagerlogistik, Store und Outlet können hier zu einer Gesamt-Erfahrung verschmelzen, die von Kunden als positiv wahrgenommen wird.

Lieferdienste machen Appetit

Im Bereich Mahlzeiten sind Lieferando und Delivery Hero in eine Lücke gesprungen und haben diese digitalisiert. Sie integrieren viele kleine Essens-Anbieter in eine einheitliche Oberfläche und sorgen für die Logistik der letzten Meile. In die gleiche Richtung geht Uber Eats. Dieses Segment ist insofern besonders, als das beim Thema Essen Lagerlogistik keine Rolle spielt, also keine Skalierung möglich ist, und zudem ein individueller Bezug zu einem Laden um die Ecke positiv gewertet wird.

Unter diesem Aspekt ist das Angebot von Gorillas und Flink ein nächster logischer Schritt. Denn die Logistik von Amazon und Zalando ist draußen vor den Toren der Stadt wie früher und heute die Supermärkte. Heute verpackt Amazon den Einkauf in allen Bereichen, dazu gehören Elektronik, Baumarkt und zunehmend Bekleidung. In Wirklichkeit ist Amazon kein Händler, sondern faktisch ein Warenvermittler – und zwar der mit dem integriertesten und umfassendsten weltweiten Logistiknetz. Egal ob Lager, Flugzeug, LKW: Amazon hat das integrierteste Betriebssystem zur Auswahl und zum Einpacken der Waren.

Nachhaltige Versorgung mitten in der Stadt

Und genau an diesem Punkt versuchen sich Gorillas, Flink und Co. mit einer riesengroßen Wette. Nämlich ob es mit dem Bereich Lebensmittel ein Segment gibt, für das das Betriebssystem von Amazon bisher nicht ausgelegt ist. Die Bestellabwicklung in unter 10 Minuten. Das bedeutet extrem kleine und kundennahe Lager, nur möglich mitten in den Großstädten. Und eine extreme Integration von Lagerlogistik (Picking) mit Delivery (Fahrradkurier).

Es ist quasi der „von Hand“-Prototyp für zukünftige Dunkellager, wie sie zum Beispiel von Noyes als Micro-Fulfillment-Bausteine entwickelt werden, kombiniert mit Delivery, wie sie vielleicht bald von Drohnen erledigt werden könnte.

Es ist die Wette auf den Aufbau einer Marke, um den Zugang zu den Kunden zu besetzen, bevor die ganze Kette vollständig automatisiert und digitalisiert werden kann. Es ist aber auch ein Versuch, wieder einen Händler in die Städte zu bringen. Einen Händler, dessen Warenauslage eine App ist und dessen Kompetenz in der Auslieferung der Waren in nachhaltiger, autofreier Form liegt.

So hatten wir uns die Digitalisierung des Handels nicht vorgestellt. Und ob diese Konzepte auf einen echten Bedarf treffen und lange genug durchhalten, bis Lager und Auslieferung noch weiter technisiert und digitalisiert werden können, das bleibt offen. 

Ja, man kann mit einem solchen Betriebssystem auch die kleinen Lager von individuellen kleinen Herstellern ganz unterschiedlicher Waren in einer Stadt in komplett neuer Form zu einem virtuellen lokalen Kaufhaus zusammenstellen. Ein Kaufhaus, das kein Lager mehr ist. Ein Kaufhaus, das nicht wie das Supermarktkonzept auf der Bündelung von Mengen über eine lange Logistikkette beruht, sondern die direkte Verteilung von lokal hergestellten Waren an lokale Kunden ermöglicht – nachhaltig und digital effizient.

Wir sollten offen sein, was sich aus diesen jungen Unternehmen entwickelt und genau hinsehen, was alles ausprobiert wird in den nächsten Monaten.

Quelle: https://unsplash.com/photos/tL92LY152Sk
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